„Ich will Jazz spielen, kreativ und unabhängig sein.“

Brandford Marsalis im Gespräch mit Jazz over Hannover-Autor Bernd „Tiga“ Schwope


Schwope: Ihr neues Album heißt nicht „Metamorphosis“, sondern „Metamorphosen“. Was gefällt Ihnen so am deutschen Plural?

Marsalis: Auf diesem Album spielen wir tatsächlich musikalische Metamorphosen. Aber wenn Sie die englische Übersetzung bemühen, steht dort dieser Begriff für eine biologische oder geografische, also naturwissenschaftliche Verwandlung, etwa von der Raupe zum Schmetterling. In der deutschen Übersetzung aber steht Metamorphosen auch einen intellektuellen und spirituellen Übergang. Das trifft es für uns besser. Das einzige andere Wort, dass mir zu unserem Album eingefallen wäre, wäre „Transition“, aber so hieß auch schon ein John-Coltrane-Album.

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Im Gegensatz zu ihrem Bruder Wynton verschließen Sie ihre Ohren nicht vor HipHop und Pop. Seit zehn Jahren aber spielen Sie ausschließlich akustischen Jazz mit ihrem eingespielten Quartett. Warum?

Es ist wichtig, eine feste Band zu haben. Dies ist der einzige Weg Musik auf dem höchsten Level zu entwickeln. Natürlich ist es besser mit Leuten zusammenzuspielen, die man genau kennt. Sonst müsste man Songs spielen, die weitaus einfacher wären. Bei den meisten Musikern mit den ich spielte, war es vorhersehbar, was sie spielten. Mit diesem Quartett nicht.

Was meine Sie damit? Nichts ist vorhersehbar?

Ich meine dies in Bezug auf Motive, und Melodien, harmonische Variationen. Wenn wir in Bewegung sind, kann so viel passieren, dass wir selber oft darüber schmunzeln. Einige Leute verstehen das, die meisten aber nicht. Es ist unmöglich, ihnen dies zu erklären, weil alles so schnell passiert.

Eine besondere Rolle nimmt dabei Ihr Schlagzeuger Jeff Tain Watts ein.

Das Bewundernswerte an Jeff ist seine Power und gleichzeitig sein musikalisches Verständnis. Er hat Percussion in einem Orchester studiert. Deswegen betrachte er sein Schlagzeug weniger als stures Rhythmusinstrument, sondern orientiert sich mehr an Sounds und Klangfarben. Und er besitzt diese enorme Datenbank in seinem Kopf, die er sofort abrufen kann. Das kann ein Begriff sein oder dessen Gegenteil. Ein Begriff aus einer TV Show oder in einem Song. Er assoziert damit 1000 Dinge. Und so spielt er auch Musik. Er hört einen Sound und klinkt sich sofort ein. Er reagiert auf eine Idee und bringt dies sofort in die Musik (schnipst laut mit den Fingern) ein. Ich mag an ihm, dass alles möglich ist.

Und wo hört bei Ihnen Freiheit auf und fängt Chaos an?

Man muss sich sehr gut mit Musik auskennen, wenn du wirklich frei spielen willst. Meine Musiker kennen sich ebenso mit Schostakowitsch, Anton Webern, James Brown und natürlich den Meister des Jazz aus. Man braucht dieses Wissen. Nur so kannst du – wenn es darauf ankommt – frei spielen. Du musst wissen, was diesen oder jenen Sound ausmacht und was er im Kontext bedeutet.

Auf ihrem neuen Album ist klassische Musik mehr als nur eine zusätzliche Klangfarbe. Oder?

Richard Strauß schreib mal ein Stück namens „Metamorphosen“. Da hörte ich den Begriff das erste Mal. Es nun mal so, dass klassische Musik mich sehr beeinflusst und ein wichtiger Teil meiner Musik geworden ist. Das kann man auf dem neuen Album gut hören. Angenommen, wir hätten 1983 das gleiche Stück, etwa die Ballade „The Last Goodbye“ von Joey Calderazzo gespielt, es hätte einen ganz anderen Effekt gehabt.

Aber mit Klassik-Jazz oder Third Stream haben Sie nichts am Hut?

Wir fusionieren ja auch nicht beide Musikrichtungen. Es passiert einfach ganz natürlich. Wir können uns dem nicht entziehen. Je mehr Musik man hört, umso mehr wird diese Musik ein Teil von dir. Wenn ich eine Ballade spiele, phrasiere ich viel besser, weil ich viele Opern gehört habe.

Sie haben die neue CD in ihrer Heimatstadt Durham eingespielt. Um nah bei der Familie zu sein?

Das Aufnahmestudio ist einfach eines der besten. Früher war es mal eine Kirche, der Sound ist umwerfend.

Werden Sie im Mai auf ihrer Deutschland-Tour vorwiegend Stücke ihrer neuen CD spielen?

Natürlich nicht.

Entschuldigen Sie die Frage!

Die Frage ist ja berechtigt. Viele Bands gehen nur auf Tour, um ihre CD zu promoten. Aber da Jazz-CDs sich eh nicht verkaufen, wäre es doch total verrückt, nur Songs des letzten Albums zu spielen. Wir spielen Musik, die zu dem Ort passt, in dem wir spielen. Wir treffen uns meist eine halbe Stunde vor dem Konzert, erzählen uns ein paar Scherze und ich frage dann: „Was wollen wir heute spielen?“ Okay, manchmal haben wir einen Plan, aber wir ändern den auch gerne in der Mitte einer Show. Wir sind ja keine Rock’n’Roll-Band.

Ist also Rock’n’Roll etwas Minderwertiges für Sie?

Das ist doch gerade das Witzige: In meiner Jugend gab es viele Rock’n’Roll-Bands, die eben keine Song-Liste hatten und viel improvisierten. Ich denke da an Grateful Dead oder die Allman Brothers.

Sie haben einst selbst mit Grateful Dead gejammt. Würden Sie das wieder machen und Popmusik spielen?

Ich will Jazz spielen. Ich will spontan sein, ich will keine Song-Liste. Das fördert nur eine gewisse Genügsamkeit. Ich bin da sehr vorsichtig. Spielt man einen Songs zu oft, hören die Musiker auf, sich kreativ einzubringen. Sie basteln sich ihr eigenes Arrangement innerhalb des ursprünglichen Arrangements. Und auf einmal hört man die gleichen Noten an den immer gleichen Stellen. Das Resultat ist, dass ich den Song aus dem Programm streiche. Wenn wir ihn sechs Wochen später wieder einbauen, klingt er frisch und unverbraucht.

Üben Sie zu Platten?

Ich höre so intensiv Musik, dass ich die Solos im Kopf nachsingen kann, bevor ich sie spiele. Den Rest überlasse ich dem Zufall. Das ist Improvisation. Ansonsten würde es so steif klingen, als würde ich eine Rede vom Blatt vorlesen.

Sind Sie ein demokratischer Bandleader?

Ich bin so lange demokratisch, bis ich es nicht mehr bin.

Wie bitte?

Natürlich bin ich demokratisch. Schließlich spielen wir auch die Songs meiner Musiker. Falls es mir gefällt, spielen wir ihre Songs, wenn nicht, dann nicht. Auf der neuen CD haben meine Musiker fast alle Songs komponiert.

Die John Coltrane Komposition „A Love Supreme“ galt für viele Jazz-Musiker als unantastbares Sakrileg. Warum haben sie gewagt, dieses Opus zu interpretieren.

Als Band ist es wichtig, sich an etwas zu wagen, was einem Angst macht. Ich kenne viele Musiker, die sprechen mehr über ihre Musik, als dass sie sie spielen. Mein Konzept ist, wenn es deine eigene Musik ist, kannst du nicht versagen. Es war schon amüsant, die Ausreden von Musikern zu verfolgen, warum man „A Love Supreme“ nicht spielen darf. Zu sagen, man darf dies und das nicht spielen, ist sakrosant – und völlig absurd. Mein Gott, „A Love Supreme“ ist ein Tribut an Gott. Bach und Mozart haben Gott Tribut gezollt – und werden 1000-fach interpretiert. Gospel-Musik ist ein Tribut an Gott – und wird auf aller Welt gesungen. Warum sollte „A Love Supreme“ so speziell sein, dass es nicht gespielt werden darf? Es ist ein wunderbares Stück Musik, wir mussten hart daran arbeiten, und wir sind dadurch eine bessere Band geworden.

Glauben Sie, das junge Musiker es heute schwerer haben als ihre Generation, weil sie so vielen Einflüssen und Informationen ausgesetzt sind?

Das Hauptproblem ist, dass viele Jugendliche in den USA, und wohl auch in Europa, ihr Ziel auf dem einfachsten, schnellsten Weg erreichen wollen. Viele meiner Studenten meinen, ihr Lernprozess sei mit 25 abgeschlossen. Ihre Freunde sind mit 25 bereits Ärzte oder Anwälte und verdienen gutes Geld. Doch mit Jazz macht man kein schnelles Geld. Wäre es mir allein um’s Geld gegangen, wäre ich bei der Jay Leno Show geblieben.

Sie waren nicht nur musikalischer Leiter der Band in der Jay Leno Show, sondern auch Saxofonist in der Band von Pop-Star Sting. Vermissen Sie diese Zeit im Rampenlicht?

Mir hat Beides sehr viel Spaß gemacht. Mir ging es nicht um Prestige. Es war einfach eine gute Gelegenheit, mal etwas anderes zu machen. Aber ich will jetzt Jazz spielen, kreativ und unabhängig sein.

Sie hatten Glück und können sich den Luxus erlauben, unabhängig zu sein. Aber meinen Sie nicht auch, dass es junge Musiker im Showgeschäft schwerer haben als noch vor zehn, 15 Jahren?

Quatsch. Wenn du an etwas glaubst, ist es nie schwer. Es kommt darauf an, was du willst. Wenn du allerdings nur Musik spielst, um reich und berühmt zu werden, dann musst du wissen, worauf du dich einlässt. Viele Musiker gehen nicht ihren eigenen Weg. Sie sind Marionetten der Pop-Branche. Irgendwelche Bosse erzählen ihnen, was sie tragen sollen, wie sie singen sollen, sie beschaffen Ihnen einen Produzenten, aber es gibt überhaupt keine Garantie, dass sich dies auch auszahlt.

Aber Sie waren doch auch in der Plattenindustrie tätig, als A&R- Manager für die Plattenfirma Sony …

Ich habe ihnen hin und wieder Vorschläge gemacht. Mehr nicht. Ich spiele Jazz, alles andere ist unwichtig. Aber ich beobachte das Geschäft sehr genau. Alle sprechen über die, die es geschafft haben, aber nie über die, die es nicht geschafft haben. Und das sind Tausende pro Jahr. Mit Musik hat dies nichts mehr zu tun. Es ist ein Geschäft. Mein Ratschlag an alle jungen Künstler: Falls du meinst, dass du ein enormes Talent bist, glaube daran und gehe deinen Weg. Wenn dem nicht so ist, musst du halt dieses Spiel mitspielen.

Wenn man denn eine Chance erhält. Ihre Ex-Firma hat ihre Jazz-Sparte gleich ganz geschlossen.

Natürlich haben sie sie geschlossen. Warum sollten sie sie behalten? Mit Jazz lässt sich kein Profit erwirtschaften.

Außer vielleicht mit ihrem Bruder Wynton, der in den 80ern zum Jazz-Superstar hochgejazzt wurde – von der gleichen Plattenfirma …

Die Verantwortlichen damals verstanden, dass die Shareholder der Firma auf einen Künstler abfahren, der sich auszudrücken weiß, schicke Anzüge trägt und sich gut verkaufen kann. Auf jeden Fall machte er mehr Einruck auf sie als, sagen wir mal, ein Boy George. Sie wussten, wo der Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit liegt. Ich glaube, die Verantwortlichen heute wissen dass nicht mehr.

War dies der Grund, Ihr eigenes Label Marsalis Music zu gründen, um nicht eingeschränkt zu sein und um die Rechte an der Musik zu besitzen?

Das weniger. Die Musikrechte sind der Kaviar eines Labels. Es ging mir mehr darum, vielversprechenden Musikern ein Medium zu bieten. Sie sollen ihre eigene Musik ohne Einfluss von außen einspielen dürfen. Ich würde es nie erlauben, dass etwa ein DJ Beats unter ihre Musik packt und so ihre Kreationen bastardisiert.

Die Kritiker des Downbeat-Magazins haben Sie zum besten Jazz-Produzenten des Jahres gewählt. Was muss ein Musiker tun, um von Ihnen verpflichtet zu werden?

Nichts. Ich gebe ihnen ein Beispiel: Der Saxofonist Miquel Zenon, den ich unter Vertrag nahm, schickte mir eine Demo-Aufnahme. Ich wollte gar kein Demo, aber er bestand darauf. Als wir uns im Studio wiedertrafen, fragte er, wie mir die Aufnahme gefallen hätte. Und was ich ändern würde. Ich sagte ihm, sein Päckchen liegt noch immer ungeöffnet bei mir. Wenn er nicht weiß, wie er klingen will, mit welchen Musikern er den für ihn besten Sound erzielt, dann hat er auf meinem Label nichts zu suchen. Wenn du nicht weißt, was du willst, dann geh zu einer großen Plattenfirma und lass dich zu irgendeinem unsinnigen Cover-Projekt überreden.

Mal angenommen, eine große Plattenfirma würde Sie fragen, eine Platte mit Beatles- oder Burt-Bacharach-Songs aufzunehmen, was wäre ihre Antwort?

Warum sollte ich so einen Blödsinn tun? Die Akkorde von Bacharach-Songs zu verändern, nur damit es hip klingt? Die Bacharach-Fans würden es nicht verstehen und alle Jazz-Fans, die Bacharach nicht kennen, auch nicht. Dabei mag ich Bacharach-Songs. Aber ich glaube nicht, dass ich seine Songs besser machen könnte. Nur wenn ich Akkorde verändere, die sich der Komponist nicht ohne Grund für den Song ausgewählt hat.

Was ist denn das Hauptkriterium bei der Auswahl ihrer Songs?

Starke Melodien.

Aber steht das nicht im Widerspruch zum Sound ihres Quartetts, der sich durch lange Improvisationen auszeichnet?

Ich finde nicht. Im Zentrum steht bei uns immer noch die Melodie. Leider spielen – vor allem in New York und in Europa – immer mehr Musiker nur noch für Musiker. Ich finde dies selbstzerstörerisch. Sie klammern die Musikkonsumenten aus, die nichts von Harmonien verstehen. Kürzlich sprach ich mit einem Musiker in New York und fragte ihn, worum es in seinem Song geht. Er meinte, es ginge um Akkordprogressionen von A-Moll ausgehend, und sein Song hätte einen irrsinnigen Rhythmuswechsel. Meine Antwort war: Darum also geht es in deiner Musik, um A-Moll, Septimen und Metren? Du solltest mal Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ hören. Da geht es um den einsamsten Menschen auf der Welt. Es geht um Berge, Täler, Flüsse, Isolation und Liebe. Und Mahlers Musik, der Sound reflektiert dieses melancholische Gefühl. Du aber erzählst mir, in deiner Musik gehe um den Sprung von A-Moll nach G7 und um 7/8-Metren? Für wen außer für Musiker spielst du dann?

Welche Regeln gelten in Ihrer Musik?

Auf jeden Fall lass ich mir nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Es gibt zum Bespiel diese vollkommen unsinnige Musikerregel, nie zwei Songs hintereinander mit dem gleichen Akkord zu spielen. Warum nicht? Die meisten Menschen kennen gar keine Akkorde. In der Pop-Musik gibt es oft nur einen und niemand scheint dies zu wundern. Warum sollte ich mich also um Akkorde scheren?

Was halten Sie von den Äußerungen ihres Bruders Wynton, der Jazz vor allem als Traditionsgut sieht?

Was er sagt, ist die direkte Fortführung seiner Musik. Er spielt und komponiert seine Musik, so wie er sie fühlt. Wynton behauptet, Jazz kommt vom Swing. Andere Musiker sagen, der Jazz hätte sich verändert. Aber wer behauptet das? Das sind doch Musiker, die nicht im alten Stil spielen können. Die den Blues nicht begreifen. Und auch noch behaupten, Swing ist tot, aber nur, weil sie ihn nicht beherrschen. Ein Schauspieler, der nicht schauspielern kann, behauptet doch auch nicht, er sei Schauspieler. Andreas Vollenweider ist doch noch lange kein klassischer Musiker, nur weil er Harfe spielt. Und Fahrstuhlmusik ist keine klassische Musik, nur weil da ein Orchester spielt. Es gibt keine Standards mehr, was Jazz ist. Auf der Autofahrt hierher hab ich den Radiosender Jazz FM gehört. Und was lief da? Nicht Billie Holiday, nicht Miles Davis, sondern Marvin Gaye und Sade.

Ihr Bruder behauptet, dass es im Jazz nach 1968 keine Neuerungen mehr gab. Darf man das tatsächlich behaupten?

John Coltranes Band ging an die äußerste Grenze. Weiter gingt es nicht mehr. Ich bin in den 70ern mit Fusion groß geworden – ich liebte es. Aber glauben Sie wirklich, dieser Hochgeschwindigkeits-Jazzrock hätte die Klasse von Coltranes Musik. Über nichts anderes spricht mein Bruder.

War wirklich alles schlecht?

Okay, Herbie Hancocks „Thrust“ oder „Headhunters“ – das ist zeitlose Musik.

Weather Report?

Ihre frühen Platten wie „Orange Lady“ oder „I Sing The Body Electric“ waren gut. Aber Weather Report bestand aus Jazz-Musiker, die sich anderen Stilen öffneten. Aufnahmen wie „Live In Tokyo“ waren komplex. Spätere Alben wie „Heavy Weather“ waren viel einfacher und eingängiger. Wer Weather Report sagt, meint meist „Heavy Weather“. Je eingängiger Weather Report wurden, desto erfolgreicher wurden sie. John Coltranes Musik hingegen wurde nicht einfacher, sondern immer komplizierter und dichter. Für mich ist dies die logische Entwicklung, wenn man Musik wirklich ernst nimmt und studiert. Wenn ich mir heute Musik anhöre, habe ich diesen Eindruck nicht. Man nehme ein Album eines x-beliebigen Jazzmusikers von 1991 und vergleiche es mit seinem Album von 2005 – du wirst keine Entwicklung feststellen können. Das ist alles, was mein Bruder sagt. Und niemand kann ihn widerlegen. Aber alle hacken auf ihn ein. Er hat ein klares Statement gemacht, und es einfach im Raum stehen lassen: Es gibt keine Entwicklung im Jazz.

Das ist ja auch starker Tobak …

Hier und da gibt es vielleicht Musiker, die sich verändern. Mir fällt da der Saxofonist Ken Vandermark ein. Aber im Großen und Ganzen: Was fällt den Musiker heute ein? Sie interpretieren Beatles- oder Radiohead-Songs.

Was ist so schlimm daran? Sollten Musiker mit ihrer Musik nicht die Zeit reflektieren, in der sie leben?

Unser Job ist es nicht, den Zeitgeist zu reflektieren. Unser Job ist es, Musik zu spielen. Natürlich ist jeder große Komponist auch Beobachter seine Zeit, der sozialen Umstände. Deswegen klingt Beethoven’s Musik auch deutsch. Wäre er in Italien geboren, würde seine Musik vollkommen anders klingen.

Also dürfen Jazz-Musiker doch aktuelle Pop-Songs interpretieren?

Ein Problem unserer Zeit liegt meiner Meinung nach in dieser globalen Einbahnstraßenkultur. Alle hören das gleiche, alle tragen die gleiche Kleidung. Egal, in welchem Bahnhof auf der Welt ich aussteige, erkenne ich sofort an der Kleidung der Menschen, in welches Konzert sie abends gehen.

Aber vielleicht ist diese Uniformierung für junge Menschen ja wichtig, um in dieser komplizierten Welt Orientierung zu finden.

Nein. Es ist ganz einfach, sich diesem Schwachsinn zu verweigern. Das wäre so, als wenn man behaupten würde, nur weil wir Jazz spielen, müssen wir auch Drogen nehmen. Warum aber tragen alle, die HipHop mögen, auf der ganzen Welt diese dämlichen Hosen, bei denen man den halben Arsch sieht?

Ist das nicht ein zeitlich begrenztes Teenager-Phänomen?

Das ist ja das Schlimme: Erwachsene machen den Quatsch doch auch mit. Als Country in den USA angesagt war, sahen alle aus wie Garth Brooks: weißes T-Shirt, hautenge Jeans, Texas-Hut. Absolut lächerlich.

Aber es gibt auch Popmusik, die über den Tellerrand schaut. Popmusik, die mehr sein will, als nur Entertainment. Nur ein Beispiel: die politisch geprägte HipHop-Band Public Enemy.

Kürzlich gab mein Bruder Wynton ein Interview und wurde zu HipHop gefragt. Der Interviewer meinte, HipHop wäre eine soziale Bewegung und hätte die Welt verändert. Mein Bruder entgegnete, dass ihn stören würde, dass alle glauben, HipHop wäre die logische Weiterentwicklung von Jazz als Amerikas Beitrag zur Weltkultur. Das ist es aber eben nicht. Es ist eine Sparte der Unterhaltungsbranche – nicht mehr. Es ist Popmusik und keine soziale Bewegung. Wäre es eine soziale Bewegung, würden der Postmann oder der Geschäftsmann auch diese HipHop-Klamotten tragen. Die einzigen, die das tun, sind Leute aus der HipHop-Industrie, Leute ohne Arbeit oder Fahrradboten.

Aber Bands wie Public Enemy haben als „CNN der Afroamerikaner“ doch auch etwas bewirkt?

Musik ist nie politisch. Texte sind nicht politsich.

Aber gab es nicht auch große Jazz-Musiker wie Charles Mingus, die politische Statements abgaben? Ich denke da an seine, dem rassistischen Gouverneur von Arkansas gewidmete Komposition „Fables Of Faubus“.

Okay, es gab „Fables Of Faubus“. Meine Frage ist nur: Was passierte in Arkansas, nachdem Mingus „Fables Of Faubus“ veröffentlichte?

Okay, okay …

Ich mag Public Enemy. „Nation Of Millions“ ist eine tolle Platte. Aber was haben Public Enemy politisch bewirkt? Nichts! Nach drei Alben hatten sie keinen Plattenvertrag mehr. Ich erinnere mich noch, als wir mit Sting für Live-Aid spielten, um die hungernde Bevölkerung in Äthiopien zu unterstützen. Was passierte, als das Schiff mit den gespendeten Hilfsgütern in Adis Abeba einlief? Es war sofort von Kriegschiffen umzingelt und die äthiopische Regierung nahm, was Sie für sich brauchte. Das ist Politik. Wir Gutmenschen aus dem Westen dachten, wir könnten das Problem lösen, aber die äthiopische Regierung erinnerte uns daran, das wir nur Pop-Musiker sind.

HipHop ist eine Weltbewegung geworden. Wie erklären Sie sich persönlich, dass viele weiße Jugendliche eine von Afro-Amerikanern erfunden Muskrichtung anhimmeln?

Schwarze haben eine Rolle zu erfüllen. Diese Rolle ist es, Ghetto-Kinder von der Straße zu spielen. Solange wir diese Rolle erfüllen, wird es genügend Weiße geben, die dies unterstützen. Es gibt diese romantische, stereotype Verklärung über authentische schwarze Musik und schwarze Musiker, die nicht Musiker, sondern Hörer erfunden haben. Mittlerweile hat dies Züge angenommen, dass, alles was nicht in diese Schubladen passt, offen abgelehnt wird.

Meinen Sie, jetzt wo Barrack Obama Präsident ist, könnte sich dies grundlegend ändern?

Nein.

Das müssen Sie erklären …

In den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich tatsächlich viel verändert. Aber es brauchte eine starke Persönlichkeit, die die entsprechende Qualifikation hat. Die Realität für Menschen mit schwarzer oder brauner Hautfarbe in Amerika ist: Du kannst nicht George Bush sein. Du kannst nicht gewinnen. Das wissen die Menschen in der schwarzen Community: Du wirst nicht nach deiner Leistung, sondern nach deiner Hautfarbe beurteilt. Es gibt Wissenschaftler, Ärzte, einige wenige, die es nach oben schaffen. Aber um dort hinzukommen, musst du nicht nur gut, sondern wirklich richtig, richtig gut sein. Mich stört das weniger, denn ich bin darauf trainiert, wirklich richtig, richtig gut zu sein.

Und dennoch: Sie fühlen Sie sich in eine Schublade gepresst?

Kürzlich nannte mich ein deutscher Journalist tatsächlich Nigger. Und warum? Weil ich über Gustav Mahler sprach. Ich wusste alles über Mahler, konnte ihm Passagen vorsingen, er aber kannte Mahler gar ist. Er war sauer auf mich, weil ich nicht seinem Abziehbild eines schwarzen Jazzmusikers entsprach. Er dachte, ich würde ein wenig über Frauen plaudern, über Drogenkonsum, diese alten Jazz-Storys, die man in jedem Jazz-Magazin der 40er- und 50er-Jahre lesen konnte. Miles Davis sprach gerne er über Huren, Motherfuckers, Autos, obwohl er eigentlich ein total smarter Typ war. Denn er wusste, dass Amerika von damals interessierte sich nicht für smarten Neger.

Und heute?

Kürzlich las ich einen Bericht über den schwarzen Komiker Bert Williams, einen der ersten erfolgreichen Schwarzen Anfang diesen Jahrhunderts. Er war ein genialer Schauspieler. Er las Proust. Aber er tat alles, um nicht beim Lesen erwischt zu werden – weil er schwarz war. W.C. Fields sagte über ihn, er wäre einer der lustigsten Menschen auf der Bühne, die er je erlebt hat. Aber einer der traurigsten neben der Bühne. Um erfolgreich zu sein, musste er seine wahren Talente verstecken und konnte nur Einzehntel seines Könnens zeigen. Langsam löst sich der Mythos vom authentisch agierenden Schwarzen auf. Aber in der Entertainment-Branche wird dieser Schwachsinn unvermindert fortgeführt.

Sie meinen HipHop?

Ja, schwarze Rapper, die goldene Zähne tragen, Kanonen tragen, Frauen Schlampen nennen und ihnen auf den nackten Hintern hauen. Andererseits: ich kann es Typen wie 50 Cent nicht verübeln – bei ihrem Stand der Erziehung. Für sie gibt es doch eigentlich nur zwei Möglichkeiten im Leben: Über Drogen und Nutten zu rappen, damit Millionen Dollar zu verdienen und die ewig gleichen Stereotypen zu bedienen oder selbst mit Drogen zu dealen.

Sie hatten aber mal selbst mit Buckshot Le Fonque eine Art HipHop-Soul-Band. Hören Sie noch HipHop?

Ich bin jetzt 48. Warum sollte ich mir HipHop-Alben kaufen? HipHop spricht nicht mehr zu mir. Das ist etwas für meinen 21-jährigen Sohn. Ich bin nicht sauer auf die HipHopper, aber ich hab den Scheiß, über den sie sprechen, längst selbst erlebt. Es gibt diese Geschichte von dem Frosch, der in einem Wal lebte. Der Frosch liebte den Wal, weil er dort zu essen hatte und vor Wind und Wetter geschützt war. Aber eines Tages beschloss er, aus dem Wal herauszuspringen. Er traf andere Frösche, die erzählten ihm von der Welt. Und er bemerkte, dass die Welt noch viel mehr zu bieten hatte.

Und was hören Sie heute gerne?

Tote alte Männer. Schostakovitsch, Chopin, Louis Armstrong, Sidney Bechet.

Green Abstract background

CD Branford Marsalis Quartet: Metamorphosen (Marsalis Music/Universal)

Tourdaten:
15.5. Berlin UDK
17.5. Hamburg Laeiszhalle
18.5. Frankfurt Mousonturm
19.5. München Circus Krone