Europäer laufen Amis den Rang ab / Schweißtreibende Konzerte
Eines der sympathischesten Jazzfestivals durfte zehnten Geburtstag feiern: Jazz Baltica, durchgeführt von der schleswig-holsteinischen Stiftung Ars Baltica mit Unterstützung des Landesmusikrates, ausgerichtet in der Konzertscheune Salzau, die dem Konzertpublikum als Hauptstätte des Schleswig-Holstein Musik-Festivals bekannt geworden war. Ein Festival mit Medienpräsenz, gutem Sound und guter Beleuchtung – ZDF-Kameras und NDR-Mikrofone schneiden alle Hauptkonzerte mit, 3sat sendet die Aufzeichnungen ab September 2000.
Inmitten des üppigen Grün der Holsteinischen Schweiz treffen sich alljährlich am Herrenhaus Salzau bekannte und unbekannte Musiker der Ostsee-Anrainerländer und als zusätzliche Zugpferde eine Reihe von Artisten aus Übersee. Diese Reihe war zum Zehnjährigen besonders lang. „Deutschlandpremieren“ und „Exklusiv“-Zusammenstellungen bekannter Künstler speziell für Jazz Baltica 2000 weckten im Vorfeld die Neugier. Die Begegnungen waren wegen der großen Hitze draußen und der zusätzlichen Wärme der Fernsehscheinwerfer drinnen oft schweisstreibend, die Ergebnisse waren wechselhaft.
Die großartigsten und frischesten Formationen, die die stärkste Power und Überzeugungskraft von der Bühne sandten, waren zwei „Original Bands“: Zum Einen das Quartett des 27jährigen amerikanischen Vibraphonisten Stefon Harris mit phantastischer Rhythmusgruppe (Jacky Terrasson, Klavier; Reid Anderson, Kontrabass; Terreon Gully, Schlagzeug), zum Anderen die Fünferbande des ebenso jungen schwedischen Saxophonisten und Klarinettisten Per „Texas“ Johansson, die in wilden Instrumentalkombinationen Stilmixes von Bebop bis Funk pustete – ein turbulentes Freudenfest mit Kontrabassklarinette und Pedal Steel Guitar!
Aus dem amerikanischen Star-Aufgebot zogen das Roy Hargrove Quintet, das Charles Lloyd Quartett und das Joe Lovano Trio erwartungsgemäß mit hochklassigen Darbietungen das Publikum in ihren Bann – jeweils nach anfänglicher Unentschlossenheit. Etwas fad wirkte dagegen der Vortrag des Benny Golson/Curtis Fuller Quintets, durchwachsen die Begegnung von Johnny Griffin und Martial Solal, während Charlie Hadens Quartet West mit Unterstützung des jugendlichen schleswig-holsteinischen Festivalorchesters mit seichten Songs gar für reichlich Verwirrung sorgte.
Das alljährliche Jazz Baltica Ensemble, das sich in mehrtägigen Proben und Sessions vorbereitete, legte unter Leitung des zwischen Ostsee und Nordamerika pendelnden Trompeters und Komponisten Tim Hagans eine reife und klangstarke Präsentation hin. Überhaupt erklangen auf Salzaus Bühne viele neue Kompositions-Eigengewächse. Pianist Abdullah Ibrahim bildete dagegen einen Kontrast, indem er seine hymnenartigen „Klassiker“ mit der exzessiv illustrierenden NDR Big Band unter Leitung von Dieter Glawischnig vortrug.
In einigen Besetzungen haben Stammgäste von Jazz Baltica die Herausforderung angenommen, in ihr Bandkonzept anlässlich des Festivals renommierte neue Partner einzubetten. Treffend gelang das dem Saxophonisten Peter Weniger, der mit den US-Bläsern Tim Hagans (Trompete) und Conrad Herwig (Posaune) sowie einer skandinavischen Rhythmusgruppe (Lars Danielsson, Bass; Jukkis Uotila, Schlagzeug) druckvoll und zupackend agierte. Eine spannende und kontrastvolle Klangcollage gestaltete der polnische Trompeter Tomasz Stanko in seinem „Green Hill Project“ mit ausdrucksstarken Mitstreitern wie John Surman (Saxophone), Dino Saluzzi (Bandoneon) und Michelle Makarski (Barockvioline). Das Ulf Wakenius Project, eine distanzierte Session mit MeisterInnen wie Michael Brecker, Ray Brown und Terri Lyne Carrington an der Seite des Gitarristen, war doch mehr vom Suchen bestimmt. Und Dänemarks Sängerin Caecilie Norby hat zusammen mit ihrem Co-Bandleader Lars Danielsson (an Kontrabass und E-Bass) alle Mühe gehabt, das populäre Line-Up mit John Abercrombie (Gitarre), David Kikoski (Klavier), Terri Lyne Carrington (Schlagzeug) und Javon Jackson (Saxophon) auf gleiche Linie zu bringen.
Umso erfreulicher war es, dass bei den „großen“ Begegnungen am abschließenden Pfingstmontag alles so inspiriert vonstatten ging, eine Jam Session auf hohem Niveau, bei der man keine Minute missen wollte. Ein Sponsor hatte dem Festival zum Geburststag erlaubt, mit seinen Künstlern einen Session-Tag anzuhängen. Vielversprechend war schon der Auftakt mit dem Esbjörn Svensson Trio, eine Formation, die dank Jazz Baltica Popularität erlangt hatte. Danach spielten plötzlich zwei Skandinavier an Bass (Dan Berglund) und Schlagzeug (Magnus Öström) besser mit den souveränen Benny Golson & Curtis Fuller zusammen als die amerikanische Originalbesetzung tags zuvor. Da kam ein distinguierter Mulgrew Miller am Piano aus sich heraus, da er vom Saxophonisten Peter Weniger fast „gebissen“ wurde. Da zeigte Posaunist Conrad Herwig als kompetenter Session-Supervisor, wo die Lampe hängt: Kein „Now’s The Time“, „Autumn Leaves“ oder gar „C-Jam Blues“ als Jam-Streichmasse, nein, Coltranes „Cousin Mary“ und unbekannte Standards wie „Devil May Care“! Da gab es souveräne Prima Vista-Lektionen und feurige Dialoge.
Mittlerweile rund 20 hannoversche Pilger, die dieses Jahr nach Salzau gekommen waren, durften befriedigt feststellen, dass trotz Fernsehen und vieler Stars das Festival stets auffallend unkommerziell verläuft. Die Konzentration aufs Wesentliche, die klingende Live-Musik nämlich, wird dem Jazz Baltica-Besucher vortrefflich ermöglicht. Kein Werbegeschrei, kein Zwischengedaddel, entspannter Grundpuls. Publikum wie Musiker genießen den Aufenthalt sichtlich. Eine Delikatesse obendrein sind die nächtlichen Sessions im Jazz-Café im Herrenhaus, wo die Jazzerfamilie sich nochmals aktiv vermengt. Hier machte übrigens dieses Jahr eine Auswahl schleswig-holsteinischer Ex-Mitglieder des Landesjugendjazzorchesters als Sessioneinheizer eine klasse Figur, unter ihnen Schlagzeuger Markus Möller und Bassistin Eva Kruse.
Bruno Paul
alle Fotos: Wilhelm H. Schrader
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alle Fotos: Bruno Konradi