Am 22. Mai 1971 standen Peter Wolbrandt, Johannes Pappert, Jan Fride und Hellmut Hattler das erste Mal anlässlich eines Kunsthappenings zusammen auf der Bühne. Die Geburtsstunde einer der einflussreichsten und gefeiertesten Bands zwischen Nordsee und Alpen. Was wäre die Geschichte der deutschen Rockmusik ohne Kraan? Zweifelsohne nicht nur unvollständig, sondern vor allem um ein besonders buntes, höchst kreatives Kapitel ärmer.
Kraan verschrieben sich von Beginn ihrer Karriere an einer spannenden Fusion aus Rock, Jazz und Ethno-Einflüssen und fügten ihrem Sound später US-Mainstream- und Soul-Elemente hinzu. Ihren Stil nannten sie kurz und ergreifend „Wintrup Musik“, benannt nach ihrem Domizil im Teutoburger Wald. Eine kleine Erbschaft im Mai 1970 war quasi die Initialzündung der Band. Die vier Ur-„Kraaniche“ Peter Wolbrandt, Jan Fride, Hellmut Hattler und Alto Pappert warfen ihr Geld zusammen und kauften sich eine Anlage plus einen Bandbus. Ihr Debütalbum nahmen sie in einer 2-tägigen (!) Studiosession auf und pflegten auch sonst den Hang zur Spontaneität. Die Galionsfiguren bei Kraan waren Bassist Hellmut Hattler und Gitarrist Peter Wolbrandt, gleichzeitig die beiden Hauptsongschreiber der Band. „Ich suchte nach einem Wort, das gut klingt“, erklärte Hattler später die skurrile Namensgebung. „Wir wollten raus aus diesem Klischee und solch ein Wort wie Kraan taucht fast in jeder Sprache auf.“ Passend dazu auch der musikalische Rahmen der Band: Über einen rockigen Drum-Beat, perfekt ergänzt durch Hattlers kraftvollen funky Grooves, zog Saxophonist Alto Pappert wunderschöne Melodien, während Gitarrist Peter Wolbrandt mit ganz eigenem Sound und swingenden Licks die Songs abrundete.
Kraan genossen das Leben einer musikalischen Kommune. Ein stillgelegtes Weidegut, ein anno 1871 erbautes Fachwerkgebäude mit etwa 4.000 Quadratmeter Land, einsam am Rande des Teutoburger Waldes gelegen, war in den Siebzigern ihr Zuhause. Das ehemalige Pferdegestüt hatte Graf Metternich den Musikern zur Verfügung gestellt – kostenlos und ohne Bedingungen. Dort wohnten sie mit 13 Gleichgesinnten (vier Musiker, der Manager, zwei Roadies, drei Frauen, drei Kinder und etliche Katzen und Hunde). Hattler charakterisierte die Philosophie des Zusammenlebens seinerzeit mit den Worten: „Es herrscht hier eine freundliche Anarchie. Wir haben absichtlich keine Pläne gemacht, wer wann wo putzen muss oder Spüldienst hat. Es ist natürlich ganz schön schwierig, weil wir auf unsere eigene Einsicht angewiesen sind.“ Denn: „Wenn in der Küche alles stimmt, geht auch die Musik in Ordnung.“
Kraan 1971: erste Autogrammkarte (Jan Fride, Peter Wolbrandt, Johannes „Alto“ Pappert, Hellmut Hattler) Foto: Intercord
Im täglichen Leben zwar mit derlei Banalitäten konfrontiert entwickelte sich die Band in den kommenden Jahren zu eine der außergewöhnlichsten deutschen Formationen. Ihre dritte Veröffentlichung „Andy Nogger“ (der Albumtitel beleuchtete den Konsumterror kritisch und war eine Anspielung auf den Speiseeis-Werbeslogan „Nogger Dir einen“) verkaufte sich 120.000 Mal. Das Werk erschien in Österreich, der Schweiz, Holland, Kanada, Australien, England, Skandinavien und Südafrika und wurde vom deutschen „Musikexpress“ zur Platte des Jahres gekürt. Bereits vier Wochen nach Veröffentlichung in Amerika rangierte das Album in den Billboard Charts auf Platz 9 der meistgespielten LP’s aller US-Sender.
Nach drei Studiowerken wurde im Oktober 1974 im Berliner „Quartier Latin“ das Doppelalbum „Kraan Live“ mitgeschnitten, eines der herausragenden Jazzrock-Alben jener Tage, das vom legendären Produzenten Conny Plank aufgezeichnet und bearbeitet wurde. Nach einem umjubelten Auftritt beim Roskilde Festival in Dänemark im Juni 1975 ersetzten Kraan den ausgestiegenen Alto Pappert durch den Pianisten/Organisten Ingo Bischof. Mit dem folgenden, ebenfalls großartigen Album „Let It Out“, das mit einem mobilen Studio in Wintrup, quasi zwischen Pferdestall und Küchenherd von Conny Plank produziert wurde, avancierten Kraan im Magazin „Sounds“ zur Gruppe des Jahres. Auch der „ME“ fand Gefallen an der Band. „Lange Kollektiv-Improvisationen zwischen Jazz, Rock und Blues werden mit spielerischer Leichtigkeit für ein paar Takte von arrangierten Teilen unterbrochen“, schrieb das Magazin im November 1975. „Da zeigt sich echtes Können und die Kraan-Leute verwirklichen ihre ausgefallenen musikalischen Ideen mit derart viel Einfühlungsvermögen und Präzision, als wollten sie augenzwinkernd an den Genius eines Frank Zappa erinnern.“
Kraan 1975 vor ihrem Domizil „Weidegut Wintrup“ (Johannes Pappert, Jan Fride, Peter Wolbrandt, Hellmut Hattler).
Nach „Let It Out“ begann für Kraan eine neue Zeitrechnung. Die beiden folgenden Alben „Wiederhören“ (1977) und „Flyday“ (1978), speziell aber das 83er Opus „Nachtfahrt“ (dazwischen liegt noch die Veröffentlichung des zweiten Live-Albums „Tournee“), reflektierten den geänderten Zeitgeist. Die Neue Deutsche Welle zog in die deutsche Musiklandschaft ein. Von ihr blieben auch Kraan nicht unbeeinflusst. Und umgekehrt. Hattler: „Viele dieser Bands waren Kraan-Fans, und waren von dem, was wir auf ‚Flyday‘ machten, vor allem von Peters Arpeggio-Gitarrenstil, beeindruckt und ließen diese Elemente auch in ihre Musik einfließen. ‚Nachtfahrt‘ dagegen war unsererseits eine mehr oder weniger ironische Auseinandersetzung mit der damaligen Musikszene.“ Echte Kraan-Scheiben waren beide Veröffentlichungen indes nur teilweise, sondern eher – wie Hattler es nennt – „jeweils zur Hälfte Solowerke von Peter und mir.“ Als kreative und produzierende Band wie zu Wintrups Zeiten existierten Kraan zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr; die Aktivitäten der Gruppe beschränkten sich auf Tourneen in wechselnden Besetzungen bis zum Jahr 1984. Danach sollte endgültig Schluss sein, aber schon 1988 erschien das dritte Bühnenwerk „Live ́88“, gefolgt von den beiden letzten Studioalben „Dancing In The Shade“ und „Soul Of Stone“.
Kraan 2005 (Ingo Bischof, Jan Fride, Peter Wolbrandt, Hellmut Hattler) Foto: Rockpalast
Mit einem Auftritt 1992 auf der „Dokumenta“ in Kassel schloss die Kraan-Historie für das fast komplette Jahrzeht der 90er Jahre.
Hattler setzte seine Karriere mit dem bereits auf den letzten Kraan-Veröffentlichungen zu hörenden Trompeter Joo Kraus in der Formation Tab Two fort, Wolbrandt widmete sich seinem erlernten Beruf als Graphiker und Programmierer. Erst anlässlich des dreißigjährigen Kraan-Jubiläums reformierte sich die Band im Frühjahr 2000 in der Besetzung Hattler, Wolbrandt, Bischof und Fride, veröffentlichte die beiden Jubiläumskonzerte („Live2001“), spielte eine überaus erfolgreiche Deutschlandtournee und veröffentlichte Ende Juni 2003 ihr Comeback-Album „Through“, das auf wundersame Weise nahtlos an alte Tugenden anknüpft, ohne dabei etwa angestaubt oder vom Zeitgeist überholt zu klingen. Auch auf dem Nachfolgewerk „Psychedelic Man“ (für das die Fa. EMI übrigens eigens ihr legendäres „Harvest“-Label reanimiert hat), erweist sich diese unverwechselbare Band als ein Füllhorn an Kreativität und Musikalität, die in dieser Form in Deutschland einzigartig ist.
Seit Anfang 2008 wurde der längst in der Luft liegende Wunsch verwirklicht, auch live wieder freier und den Fähigkeiten der Urmitglieder entsprechender aufzuspielen. Seither besteht KRAAN „nur“ noch aus den drei Gründungsmitgliedern Peter Wolbrandt, Hellmut Hattler und Jan Fride Wolbrandt, absolvierte gefeierte Tourneen und veröffentlichten 2011 in dieser Besetzung ihr aktuelles Albums mit dem Titel „Diamonds“, das hochmodern und trotzdem 100% nach Kraan klingt und damit deutlich zeigt, dass diese Band offenbar keinerlei Zeitschema zu unterliegen scheint; immerhin wird kein Prädikat im Zusammenhang mit Kraan so oft gebraucht wie das Wort „zeitlos“.
Kraan 2021 (Hellmut Hattler, Jan Fride, Peter Wolbrandt) Foto: Irma Bartsch
Im Jahr 2008 also verschlankten sich Kraan zum klassischen Kern-Trio, ohne jemals so zu klingen. Die drei Schulfreunde Peter und Jan Fride Wolbrandt sowie Hellmut Hattler wurden nicht zu Verwaltern des eigenen Erbes, sondern schrieben neue Stücke, produzierten frische Alben, interpretierten die eigenen Klassiker virtuos, funky und mit extrem viel Drive. Immer wieder bewiesen sie, dass sie auf ihrem ureigenen Kraan-Terrain zwischen Rock und Jazz auch handwerklich einfach unschlagbar sind. Mit „The Trio Years“ und „The Trio Years – Zugabe!“ ist dann sozusagen das Beste – und darüberhinaus das komplette Repertoire der vergangenen Live-Jahre zu haben. Erst Ende 2020 wurde (nach zehn Jahren) wieder ein neues Studioalbum mit dem Titel „Sandglass“ veröffentlicht. Und die Geschichte scheint auch nach 50 Jahren (1971-2021) ungebremst weiterzugehen …
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Jazz over Hannover bedankt sich herzlich bei Hellmut Hattler für die maßgeschneiderte Zuarbeit (Worte und Fotos).